In der Bruchmechanik geht man davon aus, dass ein Bruch bei spröden Werkstoffen wie gehärteten Stählen oder keramischen Werkstoffen nur aufgrund der Ausbreitung von Mikrorissen auftritt. Ein Riss kann dabei als idealspitzer Kerb mit einem Kerbradius gegen 0 angenommen werden, dessen Spannung im Kerbgrund, beziehungsweise an der Rissspitze, unendlich groß ist. Deshalb betrachtet man den Spannungszustand an der Rissspitze genauer. Die Bruchmechanik wird auch in der Werkstoffkunde 2 im Zusammenhang mit keramischen Werkstoffen relevant sein, da Keramiken als sehr feste, spröde Werkstoffe nicht durch plastische Verformung, sondern aufgrund von innerem Risswachstum versagen.
Je nach Orientierung eines Risses zur Belastungsrichtung unterscheidet man zwischen drei Bruchmodi, die wir unten abgebildet haben. Davon wird allerdings nur der Bruchmodus I behandelt. Dieser beschreibt einen Riss, der sich senkrecht zur Beanspruchungsrichtung ausbreitet, also wie der Bruch beim Kerbschlagbiegeversuch. Dabei wird der Kerb beim Auftreffen des Hammers auseinandergezogen. Bei den Bruchmodi II und III breitet sich der Riss aufgrund von Scherung durch Schubspannungen aus.
Die lokalen Spannungen kann man mithilfe des Griffith-Risses modellieren. Ein Griffith-Riss ist ein Oberflächenriss der Länge 2a in einer unendlich gedachten Ebene, die biaxial mit einer homogenen Zugspannung belastet wird. Diese Geometrie vereinfachen die Betrachtung für die Bruchmodi I und II. Man stellt den resultierenden ebenen Spannungstensor des Rissmodus I in Polarkoordinatendarstellung dar und zerlegt ihn in die tangentiale Komponente σΘΘ, die radiale Komponente σrr und die Schubspannungskomponente σrΘ. Die Spannungen beschreiben wir mithilfe von unendlichen Reihen, den Irwin-Williams- beziehungsweise Sneddon-Gleichungen. Dabei ist technisch allerdings ausreichend, die Reihe auf das erste Glied zu reduzieren. So lassen sich die Spannungsintensitätsfaktoren für einen beliebigen Riss auf die des Griffith Risses normieren.
Möchte man jedoch nicht nur einen Griffith-Riss, sondern einen beliebigen Riss behandeln, beschreibt man die Punktlage in Polarkoordinatendarstellung durch einen Winkel ϕ und einen Radius, also dem Abstand zum Ursprung oder in diesem Fall der Rissspitze r. Außerdem sind die Spannungen beim Rissmodus I spezifisch abhängig vom sogenannten Spannungsintensitätsfaktor KI. Dieser ist, ähnlich zur Formzahl bei der Kerbwirkung, ein Maß dafür, um wie viel die Spannung an der Rissspitze höher als die Nennspannung ist. Der Unterschied zwischen dem Spannungsintensitätsfaktor und der Formzahl ist, dass KI nur beim Rissmodus I, und die Formzahl im Hooke‘schen Bereich mit linearer Elastizität, in der sich der Werkstoff noch nicht plastisch verformt gilt. Der K-Faktor fällt von der Rissspitze aus radial mit 1/(r^0,5) ab und umfasst die Nennspannung σn, die Risslänge a und einen Korrekturfaktor Y. Der Korrekturfaktor fasst die Bauteilgeometrie, die Wechselwirkung zwischen Rissen und den Belastungszustand des Risses zusammen. Es können Klausuraufgaben zu diesem Thema gestellt werden, in denen man in die Formel für den Korrekturfaktor die gegebenen Größen einsetzen muss. Die Formel ist zwar relativ lang, wird allerdings auch gegeben.
und
mit
An der Rissspitze nehmen wir eine unendlich hohe Spannung an. Diese Annahme bedingt, dass ein Riss in jedem Fall eine plastische Verformung an der Rissspitze bewirkt. So entsteht eine plastische Zone, welche sich bei unterschiedlichen Probendicken unterscheidet. Bei dünnen Proben wir nämlich von einem ebenen Spannungszustand, also einer dreidimensionalen Beanspruchung ausgegangen. Bei dicken Proben hingegen geht man von einem zweidimensionalen Dehnungszustand aus. Außerdem tritt an der Oberfläche einer Probe häufiger ein ebener Spannungszustand und im inneren der Probe ein ebener Dehnungszustand auf. Die plastische Zone unter einem ebenen Spannungszustand ist dabei deutlich größer als bei einem ebenen Dehnungszustand, weswegen dieser im letzten Satz beschriebene Effekt die Form eines Hundeknochens annimmt.
Bis zu einem bestimmten K-Faktor reicht die an der Rissspitze wirkende Spannung nicht aus, damit sich der Riss ausbreiten kann. Ab einem kritischen Spannungsintensitätsfaktor breitet sich der Riss jedoch unaufhaltbar aus, was schließlich zum Bruch der Probe oder des Bauteils führt. Dieser kritische Spannungsintensitätsfaktor wird als Bruchzähigkeit KIc bezeichnet und ist werkstoffabhängig. Aluminiumlegierungen haben mit einer Bruchzähigkeit zwischen 23 und 45 MPam^0,5 wesentlich niedrigere Werte als Titanlegierungen oder legierte Stähle. Die Bruchzähigkeit eines Werkstoffs ist jedoch nicht nur werkstoffabhängig. Sie lässt sich auch durch eine Wärmebehandlung und durch eine Änderung der Mikrostruktur ohne Wärmeeinwirkung beeinflussen.